von Denis Brudna
Andreas Weinand Colossal Youth
Kolossale Zeit, kolossale Jugend. Wer bin ich, wo gehöre ich hin, wer sind meine Freunde, wer die Feinde, welcher Platz wurde mir vom Leben zugedacht? Eine Zeit der Suche, der Enttäuschungen, des emotionalen Ungleichgewichts und der Rebellion. Eine Zeit, in der die meisten Familienalben nur noch karg bestückt sind. Das Posieren vor der Kamera empfindet man als peinlich, die Bilder spießig und überhaupt – man merkt langsam aber sicher, wie anstrengend das Leben noch sein wird.
Als sich Andreas Weinand 1988, selbst damals schon 30 Jahre alt, auf die Suche begab, die wundersame Welt von Kindern und Jugendlichen zu fotografieren, war sein Projekt in gewisser Weise ein Ausflug in die eigene Vergangenheit. Bereits Mitte der 80er Jahre beschäftigte er sich mit dem Thema Kindheit und als er vom STERN ein Arbeitsstipendium erhielt, um sein episch angelegtes Thema „Jugendkult“ zu realisieren, vertiefte sich sein Interesse nachhaltig.
Andreas Weinand zu seinem Projekt: „Ich fing mit Schülern an einem Gymnasium an, habe dann über Parties andere Milieus kennengelernt und kam schließlich auf eine Party, wo ich genau die Leute und die Atmosphäre gefunden habe, nach der ich intuitiv gesucht hatte. Die Jugendlichen aus dem Projekt COLOSSAL YOUTH haben mich an meine eigene Jugend und Partyzeit erinnert. Dieses autobiographische Interesse war ein ganz wichtiger Motor. Mit der Fotografie, deren Gestaltungsmöglichkeiten ich an der Uni erforschte, hatte ich ein Medium an der Hand, mit dem ich mich sowohl im Hier und Jetzt umschauen konnte, als auch gleichzeitig mit meiner eigenen Vergangenheit, der Sozialisation und den damaligen Gefühlen emotionale Verbindung aufnehmen konnte.“
Heute, über zwanzig Jahre später, hat sich die Situation der heranwachsenden Generation nachhaltig verändert. Kinder und Jugendliche legen im Internet freiwillig ihre eigenen Spuren an und dokumentieren dort ungehemmt alles, was sie erleben oder was sie gerade bewegt. Wie das Leben selbst, enthalten solche Reflexionen viel Banales, was auch die Abermillionen Knipsbilder anschaulich belegen. Das fotografierende Mobiltelefon und die Internetpräsenz gehören zum Alltag. Die mit dem Smartphone und anderen Kameras gemachten Fotografien bilden ein riesiges Reservoir an Fotos, die einen tiefen Einblick in das Leben der heutigen Jugend vermitteln. Unlängst verkündete Mark Zuckerberg seine Vision der (Facebook) Zukunft, in der jeder Nutzer via dieser Plattform eine Art Tagebuch oder Lebensarchiv anlegen kann.
Vor zwanzig Jahren boten sich solche Möglichkeit nicht und somit war Weinands Bemühen, das Leben der Kinder und Jugendlichen möglichst authentisch zu dokumentieren ein interessanter Ausflug in eine für Außenstehende relativ fremde und verschlossene Welt. Kaum jemand hatte Zugang. Und auch Andreas Weinand wurde mit Skepsis und Misstrauen konfrontiert, als er anfangs bei den Jugendlichen mit der Kamera auftauchte. Nur langsam und mit viel Geduld näherte er sich den Jugendlichen und versuchte, sich in die Clique zu integrieren. Nach vielen Besuchen ohne Kamera wurde er schließlich als Gast akzeptiert und konnte dann relativ ungehindert sein Fotoprojekt realisieren. Nur so war es überhaupt möglich, Bilder zu machen, die nichts mit einer beiläufigen Knipserei zu tun haben. Mit einer Mittelformat-Kamera und Blitz lässt sich nicht unauffällig fotografieren.
Bemerkenswerterweise trägt diese Serie, obgleich vor zwanzig Jahren aufgenommen, eine erstaunlich zeitgemäße Note. Trotz der relativ unhandlichen Technik wirken die Bilder spontan und authentisch. „Es ist genau diese Flüchtigkeit eines Gesichtsausdruckes oder einer Gestik, die mich quasi anspringt und mir den Impuls vermittelt, dass das, was ich da sehe, eine tietere Bedeutung hat oder eben Menschen zeigt, wie ich sie oder ihn intuitiv wahrnehme und empfinde. Ich suche diese Lebendigkeit. Eine direkte Photographie mit persönlichem Blick.“
Angeregt durch Arbeiten von Diane Arbus, Garry Winogrand, Larry Fink, Larry Clark und anderen suchte Weinand die authentischen, spontanen Momente, wollte die Autorenschaft aber nicht gänzlich dem Zufall überlassen. Die Aufnahmen besitzen den Charme einer Momentaufnahme, wirken auf der anderen Seite wie geschickte Inszenierungen. Und genau diese Ambivalenz macht sie so interessant und anregend.
Die Aufnahmen aus COLOSSAL YOUTH sind zwar dokumentarisch, dennoch besitzen sie eine weitere Ebene, die sich einer engen Zuordnung entzieht. Weinand spricht in dem Zusammenhang von „künstlerisch-dokumentarischer Fotografie“. Um seine Handschrift nicht durch hektische Routine zu beeinträchtigen, begreift er seine Serien als Langzeitprojekte, an denen er möglichst mehrere Jahre arbeitet.
Als Weinand 1990 COLOSSAL YOUTH bei verschiedenen Verlegern vorstellte, war die Resonanz auf die Qualität der Arbeit zwar recht positiv, dennoch wagte es damals keiner, das Buch zu realisieren. Vielleicht war die Zeit noch nicht reif oder Weinands Bildsprache zu progressiv. Nach 20 Jahren ist es nun so weit und das fertige Buch liegt vor.
Auf einem Matratzenlager sitzen Anna und Gero. Ein Sittich sitzt auf Annas Kopf und Gero streichelt zärtlich ihre Wange. Ein stiller, magischer Moment in den Turbulenzen des Erwachsenwerdens. Denkbar, dass aus den Boxen gerade die Young Marble Giants mit dem Stück „Final Day“ zu hören waren. Das Album hieß COLOSSAL YOUTH… D. B.
Publiziert in PHOTONEWS November 2011